Früher waren mehr Raketen

raketen

 

Karenina Kolerowa, Weltraumärztin

Auf den Spielplätzen meiner Kindheit standen meist Raketen. Oder zumindest Gerätschaften, die wir zu Raketen werden ließen. Betonröhren etwa oder Klettertürme, in denen man Mondlandungen und Ausstiege in den Weltraum absolvieren konnte. Stunden verbrachten wir damit, Turbinengeräusche zu imitieren, Befehle für den Abwurf von Brennstufen herauszubellen und Meteoritenschwärmen auszuweichen. Hauptsache, nach oben ging es, immer nach oben. Kosmonauten wollten wir sein. Kleine Menschen erspielten sich eine Zukunft, die ihre eigene hätte werden können.

Und heute? Die Spielplätze dünsten Vergangenheit aus, sind voller gestrandeter Piratenschiffe und geschleifter Ritterburgen. Man spielt die Kämpfe längst gestorbener Helden nach. Die Zukunft kommt kaum noch vor in den Spielen der Kinder, der Blick gen Himmel hat seinen Reiz verloren. Es ist absurd: Will man Raketen, muss man rückwärts schauen, herausgehen aus der Welt des 21. Jahrhunderts.

 

Alle Familien sind verkorkst

Rückwärts bewegen sich auch die Erzählungen Karen Köhlers. Rückwärts heraus aus dem, was wir Zivilisation nennen. Vom glitzernden Vegas über die deutsche Kleinstadt bis in die sibirische Einsiedelei. Immer archaischer werden die Szenerien, immer irrationaler handeln die Protagonistinnen (zumindest, wenn wir unsere „Vernunft“ zum Maßstab nehmen), immer größer werden die Zumutungen der Welt. Was tust du, wenn Tod und Krankheit und Einsamkeit nach dir greifen? Wenn du dehydriert im Death Valley strandest? Wenn plötzlich der Mann auftaucht, der dich als Teenager geschwängert hat? Wenn der Freund eine Frage stellt, auf die du keine Antwort weißt? Wenn deine Familie verwahrlost, geliebte Menschen sterben oder der Krebs an dir frisst? Wenn du die Dämonen deiner Kindheit nicht los wirst? Was tust du also? Kämpfen vielleicht? Oder fliehen? Verzweifeln? Klar, auch das. Aber nur, weil du es so willst. Diese trotzige Selbstbehauptung scheint mir die Erzählungen leitmotivisch zu durchziehen. Mehr als einmal musste ich an Miranda July denken, an ihre Heldinnen, ein paar Jahre später, desillusioniert und gereift, aber nicht minder eigensinnig und immer bemüht, Subjekt zu bleiben in einer Welt voller Überforderungen. Und so landen Knie im Schritt, Schokoriegel auf Waldlichtungen und Tagebücher auf abgelegenen Inseln. Und immer wächst daraus auch etwas Hoffnung.

Nicht minder beeindruckt hat mich auch die formale und stilistische Breite der Erzählungen. Und damit meine ich nicht Beliebigkeit, im Gegenteil. Vom Roadmovie über den Postkartenroman bis zum bruchstückhaften Tagebuch ist jede Geschichte in die für sie perfekte Form gegossen, erscheint nichts zufällig, werden die Möglichkeiten des Genres konsequent ausgereizt. Das wäre schon bemerkenswert genug, stünden die Erzählungen jeweils für sich allein. Doch es kommt noch besser: Bei der zweiten Lektüre, die unvermeidlich folgt, staunt man, wie subtil sie miteinander verwoben sind. Wie sie Erinnerungen aufblitzen lassen, raffiniert aufeinander verweisen, zum Zurückblättern anregen, um all die Spuren zu finden, die gelegt wurden – kleine Gesten meist, Fernsehbilder, Sekundenbruchteile, zu vergrabene Dinge. Vielleicht habe ich sogar mehr gefunden, als die Autorin versteckt hat. Auch das spräche für das Buch.

 

Roberta De Niro

Eine Geschichte fehlt jedoch leider: Es ist die Geschichte einer Autorin, die zu einem renommierten Literaturwettbewerb eingeladen wird, kurz davor maximal glamourös erkrankt und so den sicheren Sieg verpasst. Ihr Verleger tritt auf, der nun statt ihrer den eingeladenen Beitrag liest, außerhalb des Wettbewerbs, denn die Statuten sind gnadenlos. Und dann bekommt diese Geschichte einen Dreh, denn es geschieht, dass kaum ein Artikel über den Wettbewerb darauf verzichten kann, den Namen der Autorin zu nennen, mit einem großen Bedauern meist. So dass man am Ende beinahe meint, die Krankheit sei Teil der raffiniertesten Marketingkampagne der jüngeren Literaturbetriebsgeschichte.

Diese Erzählung fehlt, weil Frau Köhler, ganz schauspielschul- und theatergestählt, es vorzog, sich der Protagonistin zunächst qua Method Acting anzuverwandeln. Das kann man machen und ich will das nicht tadeln.

 

Jedenfalls

Seit Svenja Leibers „Büchsenlicht“ haben mich keine originär deutschsprachigen Kurzgeschichten mehr so eingenommen wie diese. Und ich bin da offenbar nicht allein. Die Medien besprechen das Buch wohlwollend bis euphorisch, die SWR-Bestenliste wurde geentert, der aspekte-Literaturpreis liegt zum Greifen nahe, Blogs sind voller Empfehlungen. Raketengleich geht es voran und ich freue mich gleich dreifach darüber: Für die Autorin, für das Buch und für das Genre.

Fabelhaft. Applaus. Glückwunsch.


 

Karen Köhler
Wir haben Raketen geangelt.
Erzählungen
Hanser Berlin, München 2014
ISBN 9783446246027
Gebunden, 237 Seiten, 19,90 EUR

Kategorien: Bücher

2 Kommentare

  1. Von Kosmonautin an Kosmonaut: Wow. Danke.

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